Moselwanderung

 

Eine Moselwanderung sollte es werden. Gerade richtig das Wetter: Sonnig mit frischem Wind, der die Haut kühlte und den Haarschopf sanft zerwuselte. Alles Nötige für ein Picknick unterwegs war schon eingepackt, der Schlafsack zusammengerollt und oben auf den Rucksack geschnallt. Nun hatten sie den Aufstieg auf die Moselhöhe vor sich. Abkürzen wollte sie. Statt an der langen Flussschleife entlang zur nächsten Jugendherberge zu laufen, hatten sie sich auf der Karte einen Weg über die Höhe ausgesucht. Zwei Drittel des Weges würden sie so sparen. Jedenfalls war Martin dieser Ansicht: "Über die Höhe!"

Fröhlich machten sie sich auf den Weg. Und wurden belohnt: Höher und höher kamen sie und weiter und weiter schweifte der Blick, wenn sie stehenblieben und zurück sahen.Die kühle Morgenfrische verlor sich langsam und machte der beginnenden Mittagshitze Platz. Hunger rührte sich und die kleine Expedition dachte erst wenig, dann mehr und mehr an würzigen Käse, Äpfel, Kohlrabi und was der Leckereien mehr in ihrem Rucksack waren.

Unter einem schattigen Baum, mit freiem Blick über die Höhe lagerten sie und packten aus. Zirpende Stille, kaum noch ein Windhauch, in der Ferne unter ihnen ein kleiner Fetzen glitzernde Mosel: andächtig verschmolzen sie mit ihrer Umgebung, genüsslich kauend, schauend, und die Ferne fühlend. Mit einem Seufzer stand Tim auf, träge setzten sie sich wieder in Bewegung. Noch ein Tal, ein Hügel, dann müsste das Moseltal wieder vor ihnen liegen...

Stattdessen krochen dunkle Wolken über den Rand des Waldes vor ihnen. Still, gespenstisch still war es geworden. "Au, au," Janina ahnte Schlimmes. Und wirklich: Schwarz und immer schwärzer der Himmel, stickig jetzt die Luft. Und vor ihnen im Tal lag ein undurchdringliches Grün, über das mit langsamen, gleichmäßigen Flügelschlägen ein großer Vogel segelte. Und dann ließ er sich in das Blätterdach fallen und war verschwunden. In der Ferne zuckten Blitze. Erst hellgrün; dann von smaragdener Farbe, dunkelgrün werdend, ja fast schwarz am Ende der Wald im Tal unter ihnen. Und manchmal in weiter Ferne, tief unter ihnen in dieser dunklen Üppigkeit ein quäkender Schrei darin, der die Stille zerriss. Unheimlich, ja gerade abweisend der Wald, als sie den Abstieg in das Tal begannen - und keine Mosel in Sicht.

"Sieh doch mal in die Karte," regte Janin an. Ein wenig Glück hatten sie dann aber doch. Eine kleine Wanderhütte war auf der Karte eingetragen, gleich hinter der übernächsten Wegbiegung, bereit, ihnen Schutz zu gewähren, als gerade die ersten schweren Tropfen durch das Blätterdach schlugen.

Trommelnd auf dem Dach der Hütte der Regen, dunkel der Wald ringsum. Ein Blick auf die Karte: Zur Mosel war’s mindestens noch einmal soweit. Bis zum Abend würden sie das nie schaffen.
Ebenso plötzlich, wie der Regen gekommen war, hörte er auch wieder auf. Also weiter? Noch ein Tal und noch ein Berg und wieder ein Tal und noch ein Berg...? Langsam reichte es. Und es begann zu dämmern. In ein oder zwei Stunden würden sie nix mehr sehen. "Hast Du ne Taschenlampe dabei?" "Nö" Martin schüttelte den Kopf. "Wir werden wohl draußen übernachten müssen." "Oh, je, ist doch alles nass hier!" Lisa seufzte. "Dann bleiben wir in der Hütte!" Janin begann ihren Schlafsack auszurollen. "Auf dem harten Boden?" Martin war überhaupt nicht begeistert. Aber da ließ sich wohl nix machen. Isomatten hatten sie nicht bei.

Dann hieß es eng zusammenrücken. Viel Platz war nicht da. Und mittlerweile war es auch finster geworden. Mit der Nacht kamen die Geräusche. Überall begann es zu knistern und zu knacken. Es war, als hüpften, krabbelten, krochen und sprangen tausend Kobolde durch das Gesträuch. Mal links, dann rechts, nun vorne, jetzt wieder hinten, dann in der Ferne. Dazu das Tropfen aus den Bäumen auf das Dach über ihren Köpfen... Und lauter wurde es, stetig und unaufhörlich.

"Man, is das ´n Lärm, kann ja keine Sau schlafen dabei" moserte Martin. Locker gesagt; ein Witz sollte es sein, doch ihm war nicht wohl dabei. Ganz und gar nicht. Und dann schreckten sie alle hoch. Da näherte sich ´was. Ein unregelmäßiges Knacken. Mal rechts, dann wieder links. Und es kam unaufhörlich näher. "Was ist das?" Janin spähte angestrengt ins Dunkel der Nacht. "Psst!" fauchte Lisa sie an. "Wenns ein Wildschwein ist..." "Ach quatsch, Wildschwein; nachts!"

Unwillkürlich flüsterten sie, horchten, hielten den Atem an. Da, da war es wieder. Jetzt raschelte es laut hinter der Hütte. Atemlos verfolgten sie, wie sich das Geräusch langsam um die Hütte herum bewegte. Und dann scharrte es an ihren Rucksäcken, die sie am Eingang abgelegt hatten.
„Die Äpfel!“ schoss es Janin durch den Kopf. Die musste das Wildschwein riechen... „Au wei,“ fuhr es ihr aus dem Mund.

Und in diesem Augenblick erhellte ein Blitz, direkt gefolgt von einem Donnerschlag den Wald Und da sahen sie es: „Ein Marder!“ rief Martin, „seht mal ein Marder hat den ganzen Krach gemacht. Wie süß!“ Erschreckt von Donner und ihrem erleichterten Geschrei, sprang er davon. „So was, ein Marder,“ brummelte Tim, „dann kann ich ja endlich schlafen...“ Mit einem Seufzer  schloss er die Augen, während der einsetzende Regen ihn langsam einschlafen ließ.

(September 99)